22. April 2016

Harte Zeiten, weiche Herzen

Fünfzehn Eindrücke von einem Erzählsalon in der Buchhandlung Thaer in Berlin-Friedenau.

Text: Priya Basil
Berlin 2016. Foto: Privat
Zum englisch-arabischen Erzählsalon in der Buchhandlung Thaer in Berlin-Friedenau am 31.03 2016 sind zahlreiche Interessierte gekommen. Berlin 2016. Foto: Privat

1. „Egoistisch ist nicht, wer darauf besteht, so zu leben, wie er möchte. Egoistisch ist, wer darauf besteht, dass alle so leben, wie er möchte.“ Diese Worte, vorgetragen in einem ruhigen, syrisch eingefärbten Englisch von Ferial Bergli, schallten durch die Buchhandlung Thaer. Sie brachen sich an den Regalen, rollten die Rücken von gebundenen und Taschenbüchern entlang, klangen den Zuhörern in den Ohren und hallten noch lange nach Ende der Veranstaltung in meinem Kopf wider. Diese beiden Sätze markieren ein existenzielles Dilemma: Wie wird man anderen gerecht, ohne sich selbst zu verbiegen? Ein Dilemma, in dem wir alle uns irgendwann wiederfinden, und mit dem manche, seitdem Tausende Neuankömmlinge unter uns leben, heftiger ringen als jemals zuvor.

2. Die Diskussion – kundig geleitet von der palästinensischen Autorin Adania Shibli – bot Einblick in den persönlichen und politischen Werdegang dreier sehr unterschiedlicher Frauen, die dennoch manche Erfahrungen und Ansichten teilten. Katja Ponert vom Team des „Wir machen das“-Rechtsberatungsbusses verbrachte nach dem Abitur ein Jahr in Paraguay und Chile. Es sollte eine prägende Zeit für sie werden. Sie erfuhr, wie ungleich überall auf der Welt Reichtum und Privilegien verteilt sind, und beschloss – in der Überzeugung, dass Ungerechtigkeit mit rechtlichen Mitteln zu bekämpfen sei –, Jura zu studieren.

Zahraa Qais erinnerte sich an bessere Zeiten im Irak: So grauenvoll das Regime Saddam Husseins gewesen sein mag, die Frauenrechte wurden damals doch zumindest in Teilen geachtet. Zahraa ahnte, in welcher Weise Recht und Gesetz das Leben beeinflussen konnten, und wollte daraufhin Anwältin werden.
Ferial gab sich skeptischer und äußerte Zweifel an der Macht des Rechtssystems. In Syrien habe es ihrer Meinung nach immer nur kurze Phasen gegeben, in denen Hoffnung auf Gleichberechtigung der Geschlechter aufkeimte. Trotzdem schaffte sie es, sich als alleinstehende Mutter von drei Kindern ein Leben aufzubauen, indem sie privat Englisch unterrichtete und Geld verdiente.

3. Die Übersetzung ins Englische geriet recht hölzern, und nach einigen Minuten beichtete der Dolmetscher Salem, dass er in letzter Zeit voll und ganz mit Deutschlernen beschäftigt sei und ihm das Umschalten auf Englisch schwer falle. „Könnte ich stattdessen von Arabisch ins Deutsche übersetzen?“, fragte er. Und so wurden wir Zeuge des ungewöhnlichen Moments, in dem jemandem klar wird, dass in seinem Kopf eine Sprache eine andere verdrängt hat, und dass er sich, zumindest hier und jetzt, in der neuen Sprache – die er erst ein knappes Jahr lang spricht – wohler fühlt als in der alten, Englisch, die er sein halbes junges Leben lang gelernt hat.

4. Ferial, die Damaskus verlassen hatte, nachdem ihr Wohnblock bombardiert worden war, verriet uns, dass ihr ursprüngliches Ziel Schweden hieß, dass Deutschland nur eine weitere Station auf dem Weg war. Doch kaum war sie angekommen, wurde sie krank und konnte nicht gleich weiterreisen. Schließlich stellte sie ihren Asylantrag hier. Ihr von mächtigen Kräften – Geopolitik, Religion und Krieg – gelenktes Schicksal wurde plötzlich von einem internationalen Virus bestimmt, der Grippe.

5. Plötzlich meldete sich ein Zuschauer und sagte etwas auf Arabisch. Er frage, erläuterte der Dolmetscher, ob auch die englischen und deutschen Beiträge ins Arabische übersetzt werden könnten, nicht nur anders herum. Dieser kleine Akt der Selbstbehauptung war ein weiteres Anzeichen für den Wandel, in dem unsere Gesellschaft begriffen ist: Es gibt Menschen, die an ihr teilhaben wollen und die darauf angewiesen sind, dass wir ihnen den Zugang etwas erleichtern. Und so hatten wir, die wir kein Arabisch sprachen, uns zu gedulden und erlebten, was für die Neuankömmlinge eine alltäglich Erfahrung war: Sprache als eine unverständliche Melodie, deren Bedeutung man nur zu gern entziffern würde.

6. „Niemand will sein Land verlassen“, sagte Zahraa. Sie beschrieb die Ängste, denen sie über zehn Jahre lang ausgesetzt war. „Krieg bedeutet Unsicherheit.“ Sie selbst, fügte sie hinzu, hätte damit leben können – und lange Zeit hat sie es ja auch getan. „Ich bin stark, ich bin erwachsen. Ich konnte mich arrangieren.“ Doch alles änderte sich, als sie ein Kind bekam. Ihre Tochter sollte nicht in solch unsicheren Umständen aufwachsen, den Grundfreiheiten beraubt und unter ständiger Bedrohung. Deswegen machte sie sich auf den Weg nach Europa.

7. „Die Jahre weicher Demokratie in Deutschland sind vorbei“, erklärte Katja. Bürger dieses Landes zu sein – so habe ich ihre Aussage verstanden -, ist heute kein Freizeitvergnügen mehr, kein Hobby. Die Zeiten sind vorbei, in denen es ausgereicht hat, über Gleichberechtigung und Chancengleichheit für alle nur zu reden; in denen die beschwerlichste unserer demokratischen Pflichten darin bestand, wählen zu gehen. Die neue Wirklichkeit verlangt eine neue, härtere Haltung. Gefordert ist die Schwerarbeit von öffentlicher Auseinandersetzung, von Protest und Engagement. Es gilt, die Augen auch vor schwierigen Situationen nicht zu verschließen. Die Ellbogen auszufahren und bereit zu sein, all diejenigen unterzuhaken, die eine offene Gesellschaft wollen und sie gegebenenfalls gegen Fremdenfeinde zu verteidigen. Wir leben in Zeiten harter Demokratie, in der unsere Werte ernsthaft auf die Probe gestellt werden.

8. „Wo leben Sie? Wie sieht Ihr Alltag aus? Lernen Sie Deutsch? Sind Sie viel in der Stadt unterwegs? Haben Sie Freunde?“ Das war es, was das Publikum von den Neuankömmlingen als Erstes wissen wollte. „Ich habe viele Freunde!“, lachte Zahraa. Einige davon waren im Publikum. Sie zeigte auf Silke, ihre Englischlehrerin, ihren Mitschüler Saddam aus Pakistan und Hassan aus Aleppo. Auch Ferial hatte Freunde mitgebracht.
Genau genommen erwies sich Freundschaft als Fundament der ganzen Veranstaltung. Ich hatte sie mit meiner Freundin Adania gemeinsam geplant. Zahraa und Ferial hatten zugesagt, weil wir mit ihnen befreundet sind. Katja kam über eine Freundin dazu, die ebenfalls im Rechtsberatungsbus ehrenamtlich tätig ist. Die Buchhändler Elvira und Walther Hanemann richteten den Abend zum Teil deswegen aus, weil wir in Kontakt geblieben sind, nachdem ich vor drei Jahren zu einer Lesung bei ihnen eingeladen war. Mindestens die Hälfte der rund vierzig Zuhörer hatte von der Veranstaltung über Freunde gehört. Freundschaft ist der Nährboden unserer Wurzeln und Zweige. Sie mögen alt oder neu sein, stark oder schwach, doch durch sie sind wir verbunden, sie geben uns Halt und lassen uns wachsen.

9. „Was ist mit all den Neuankömmlingen, die weniger Glück hatten, die hier noch keine Freunde gefunden haben und vielleicht keine finden?“, fragte Magdalene Heuser, eine Zuhörerin. Sie saß neben einem jungen Syrer, der ebenfalls Salem hieß, dem sie privaten Deutschunterricht angeboten hatte, nachdem sie mitbekommen hatte, wie chaotisch und sporadisch die offiziellen Sprachkurse abliefen. Katja seufzte: weder genug Räume noch Lehrer noch Kurse – das sei ein nur zu bekanntes Szenario. Wie soll Integration gelingen, wenn es beim Wesentlichen hakt? Salems Unterricht findet bei Magdalene Heuser zu Hause statt. Er ist Teil ihres Lebens geworden. Jedem, den sie trifft, erzählt sie von ihm. So hat er sich herumgesprochen, so hat er ein Praktikum sowie einen Job in einer Bar gefunden. Mund-zu-Mund-Propaganda. Die uralte Strategie verfehlt ihre Wirkung offenbar auch dann nicht, wenn es um die Unterstützung von Neuankömmlingen geht. Das Publikum in der Buchhandlung jedenfalls ließ sich von Frau Heuser und ihrer Überzeugung mitreißen, dass die Beschäftigung mit Flüchtlingen bereichernd sei.

10. Eine andere Zuhörerin wies darauf hin, dass in Berlin-Friedenau kürzlich zwei Flüchtlingsheime eröffnet worden seien. Hunderte Flüchtlinge seien also in die Gegend gezogen, und doch sehe sie kein Anzeichen dafür in den Straßen. „Es ist, als hätte sich gar nichts geändert“, sagte sie ein wenig enttäuscht. Sie schilderte ihre vereitelten Versuche, in die Heime zu gelangen: Strenge Sicherheitsvorkehrungen und lange Registrierungszeiten erschwerten den Kontakt zu den Flüchtlingen. „Die müssen die Regeln ändern“, sagte sie. Magdalene Heuser widersprach: „Wir können nicht herumsitzen und warten, dass irgendjemand etwas ändert. Nur indem wir selbst tätig werden, erzwingen wir Veränderung.“ Sie hat recht. Der Staat wird immer versagen – juristisch, sozial, politisch –, weil Nationen auf der Basis von Ausgrenzung errichtet werden. Ideale Bedingungen für offene Gesellschaften gibt es nicht und wird es vermutlich niemals geben. Wir können nur auf mehr Inklusion hinarbeiten und hoffen, dass unsere Bemühungen national und international möglichst bald geeignete Maßnahmen nach sich ziehen.

11. Was fehlt noch in deinem Leben?, fragte Adania die Neuankömmlinge. Jetzt, wo ihre Grundbedürfnisse gestillt sind, was wünschen sie sich? Die überwältigend eindeutige Antwort war: Privatsphäre. Ein Zimmer für sich allein. Salem, Magdalene Heusers syrischer Freund, fügte hinzu, dass er gern einen eigenen Internetanschluss hätte. Was daran gemahnte, dass der virtuelle Raum lebensnotwendig ist, weil viele Neuankömmlinge mit der Welt, die sie zurückgelassen haben, nur dort wieder in Kontakt kommen können.

12. Elvira Hanemann, die Buchhändlerin, erzählte von einem neuen Projekt, das sie im Rahmen der größeren Initiative vor Ort, Friedenau hilft!, ins Leben gerufen habe, das Kulturcafé. Alle vierzehn Tage sollen Kulturabende stattfinden, an denen Neuankömmlinge und Alteingesessene sich treffen und einander durch Musik, Film, Kunst, Tanz und Literatur besser kennenlernen können. „Falls Sie Vorschläge haben, melden Sie sich bei mir“, bat Elvira, „wir brauchen mehr Freiwillige und mehr Ideen!“

13. „Wir müssen Neuankömmlinge als politische Akteure wahrnehmen, Menschen mit der Fähigkeit, unserer Demokratie Ideen, Worte und Energie hinzuzufügen“, überlegte Katja Ponert. „Wir müssen diese Angst vor dem Fremden überwinden und diese Angst, irgendetwas zu verlieren.“

14. „Vielen Dank“, sagte Zahraa im Anschluss zu mir, „vielen Dank für diese Gelegenheit, vor Publikum zu sprechen. Ich wollte den Leuten unbedingt mitteilen, was ich denke.“ Ein paar Tage später schrieb mir ihre Lehrerin Silke: „Vielen Dank, dass Sie Zahraa die Chance gegeben haben, zu glänzen. Mein Student Saddam, den Sie kurz kennengelernt haben, war von dem Abend sehr beeindruckt. Er hat einen kurzen Einblick in ein Deutschland bekommen, mit dem er in seinem Heim überhaupt keinen Kontakt hat.“ Wir alle, besonders aber die Neuankömmlinge, kommen wieder und wieder an. Ständig treten wir irgendwo zum ersten Mal ein – in verschiedene Lebensphasen, neue Beziehungen, ungeahnte Herausforderungen, andere Perspektiven, unbekannte Haltungen. Jede Ankunft stellt nicht nur einen Anfang dar, sondern eine Beteuerung des Daseins, eine Siegesfahne der Beständigkeit.

15. Der vielleicht aufschlussreichste Teil des Abends kam nach der Veranstaltung, als die Leute sich miteinander unterhielten und ich hörte, wie eine Frau zu einer anderen sagte: „Ich wüsste gern, wer die anderen Flüchtlinge waren, die beiden, die den Abend organisiert und moderiert haben.“ Sie meinte Adania und mich. Ich war erstaunt, dass selbst diese aufgeschlossenen Menschen, die den Kontakt mit Neuankömmlingen suchen, automatisch annehmen, alle nicht-weißen Menschen im Raum seien nicht von hier. In diesem Fall hatte die Frau natürlich recht. Adania und ich stammen beide aus anderen Ländern, aber wir sind auch von hier. Genau wie die Neuankömmlinge. Eines Tages, bald. Sobald wir uns vorstellen können, dass sie es bereits sind.

Dieser Text von Priya Basil erschien zuerst im Zeit-Blog 10 nach 8.