In dieser Reihe öffnen Buchhandlungen in ganz Deutschland ihre Räume, um Begegnungen zwischen Newcomern und der Nachbarschaft zu ermöglichen. Die Buchhändler gewinnen mit KundInnen zusammen Newcomer, die ihre Geschichte erzählen oder aus einem ihrer Lieblingsbücher vorlesen.
Text: Annika Reich
Foto: Dominik Butzmann
Jörg Braunsdorf, der Inhaber der Tucholsky Buchhandlung, ließ sich sofort für die Idee begeistern und hatte schnell einen Kunden gefunden, der die Organisation übernahm. Der Regisseur Frank Alva Buecheler ist hochengagiert in der Flüchtlingshilfe, hat in einem Heim in der Nachbarschaft geholfen, bis er zwei Organisationen gründete, die sich um geflohene Menschen kümmern und Auftritte für geflohene Künstler und Musiker organisieren (freedomus und freeartus).
Zu unserem Premierenabend brachte er einen Mann aus Pakistan mit, den er in dem Heim kennengelernt hatte und der nun seit einem Jahr in Berlin lebt. Der Pakistani war ihm aufgefallen, weil er abseits der Anderen im Aufenthaltsraum saß und ohne Unterlass schrieb. Ein Buch über seine Erfahrungen wolle er schreiben, fand Buecheler heraus und besorgte ihm einen Literaturagenten. Außerdem fand er einen jungen Syrer, der das Englische des Pakistani ins Arabische übersetzte und dies grandios meisterte, wie mir eine befreundete palästinensische Autorin bestätigte.
Die Tucholsky Buchhandlung platzte aus allen Nähten. Als der Übersetzer anfangs fragte, ob es im Publikum Menschen gebe, die nur Arabisch sprächen, schnellten die Arme hoch. Es war uns also gelungen, nicht nur Kunden der Buchhandlung, sondern auch viele Newcomer in die Buchhandlung zu locken.
Der Pakistani erzählte von seiner Flucht, seinen traumatischen Erfahrungen in Pakistan, den Schuldgefühlen seiner Familie gegenüber und wie wenig er sich noch vor zehn Jahren vorstellen konnte, dass sein Leben so verlaufen würde. Aus Angst davor, dass seiner Familie weiteres Leid geschehen könne, falls jemand erführe, dass er in Deutschland ist, bat er darum, keine Details seiner Erzählungen an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Aus diesem Grund nenne ich seinen Namen nicht und nenne ich auch keine weiteren Details aus seiner Lebensgeschichte.
Im Laufe des Abends meldeten sich zahlreiche Männer aus dem Irak, aus Palästina und Syrien und eine pakistanisch-stämmige Deutsche zu Wort, befragten den Pakistani und sprangen dem Übersetzer zur Seite, der teilweise sehr lange Passagen zu übersetzen hatte.
Im Nachhinein denke ich, ich hätte diese Menschen noch viel mehr miteinbeziehen sollen. Die Frage, die ich dem Pakistani eingangs gestellt hatte: „Welche Szenen sind dir seit deiner Ankunft in Deutschland am eindrücklichsten in Erinnerung geblieben?“, diese Frage hätte ich der Runde stellen sollen. Eine Idee für das nächste Mal.
Nachdem der Pakistani Adressen mit KundInnen ausgetauscht hatte, die ihm bei der Jobsuche helfen wollten, und wir uns alle bei Wein und Wasser weiter in kleineren Gruppen unterhalten hatten, gingen wir noch mit einigen Besuchern in die Kneipe nebenan. Ich saß etwas erschöpft von meiner Moderation neben einem jungen Mann aus dem Nordirak. Er verstand weder Deutsch noch Englisch, aber zückte wort- und tonlos sein Smartphone und tippte in seine Übersetzungsapp: „Gibt es ein Leben nach dem Tod?“
Ich musste lachen, sagte ihm, dass das für den Einstieg eine ziemlich philosophische Frage sei, und warum er das wissen wolle. Ein Syrer, der neben uns saß, übersetzte. Der junge Mann verzog keine Miene, sondern tippte: „Mein Leben ist zu Ende.“
Ich schwieg. Und als ich mein eigenes Schweigen nicht mehr aushielt, fragte ich ihn, was er beruflich mache.
„Gitarrist“.
Seine Fingernägel, die waren mir schon aufgefallen.
Dann tippte er wieder: „Mein Vater ist Professor für Keramik und Bildhauerei, ein Bruder ist Bildhauer, ein Bruder ist Kalligraph. Willst Du Bilder von meinen Brüdern sehen?“
Ich nickte.
Er tippte: „Ja?“ und schaute mich fragend an.
Ich verstand nicht und nickte wieder.
Dann scrollte er sich durch seine Fotosammlung und zeigte mir ein Bild von einem Arm, vom Oberarm bis zum Handgelenk aufgeschlitzt und ein Bild von einem Bauch, von Folterspuren übersät.
Es sind all diese Geschichten, von denen ich nicht weiß, wie ich sie verkraften soll, und es sind diese Geschichten, die mir zeigen, wie wichtig es ist, dass wir miteinander ins Gespräch kommen.