Annett Gröschner und Widad Nabi gehen in ihren Texten den Spuren nach, die der Krieg in den Städten und in den Menschen hinterlässt – damals in Berlin und heute in Aleppo. Bei Meet your neighbours in der Amerika-Gedenk-Bibliothek gaben die beiden Autorinnen am 3. Dezember erstmals Einblick in den Beginn ihrer eindrucksvollen literarischen Korrespondenz auf zwei Sprachen.
Nach einer einleitenden Begrüßung und Vorstellung der Autorinnen durch die Moderatorin Ines Kappert ergriff die kurdisch-syrische Lyrikerin Widad Nabi selbst das Wort und wendete sich an die Menschen, die sich am Sonntagnachmittag im Salon der Amerika-Gedenk-Bibliothek eingefunden hatten, um ihrem literarischen Austausch mit Annett Gröschner, ihrer Tandem-Partnerin aus dem Projekt Weiter Schreiben, zu lauschen. Bei Weiter Schreiben gehe es darum, Netzwerke zu öffnen und über Literatur Nähe aufzubauen. Welcher Ort könnte sich dafür besser eigenen als eine öffentliche Bibliothek, in der die unterschiedlichsten Leute der Literatur wegen aufeinandertreffen? Während Widad und ihr Gedicht „Hätte ich ein Gartenherz“ erst auf Arabisch vortrug und Annett es anschließend in der deutschen Übersetzung von Suleman Taufiq las, füllte sich der Raum mit immer mehr Menschen, die zufällig auf dem Weg zu dem kleinen Café vor dem Salon auf die lesenden Stimmen aufmerksam geworden waren.
„Hätte ich ein Gartenherz,
die Bäume würde ich nach dir benennen,
das Gras wachsen lassen
bis an dein Haus.
Die weißen Blumen
beleuchteten die dunkle Strecke
zwischen meinem und deinem Herzen.
Hätte ich ein Gartenherz,
eine purpurrote Malve würde ich
unter den Stiefeln des Soldaten wachsen lassen,
der auf das Herz eines Kindes zielt.
Ich würde ihn auffordern zu schauen,
was auf dem Boden wächst.
Vielleicht beugte er sich dann herab,
um die Schönheit unter seinen Füßen zu sehen,
und vielleicht vergäße er seinen Schuss.“
Hätte ich – so würde ich – vielleicht…, ein Gedicht im Konjunktiv. Wie machtlos musste das einzelne Ich sich im Krieg fühlen? Die Erfahrungen, die Widad in ihrer Heimat Aleppo machen musste, erinnerten ihre deutsche Kollegin Annett an den Verlust und die Zerstörung, die den Menschen in Berlin während des Zweiten Weltkriegs wiederfahren war.
Als Ines Kappert sie nach der Bedeutung jener Kriegsschicksale in ihren Texten fragte, antwortete die Berliner Autorin, sie erlebe seit frühester Kindheit im Traum die Verschüttung ihrer Mutter, als sei sie selbst diejenige, die damals unter Trümmern im Keller begraben lag. Das Trauma sei ihr Erbe. Und nicht nur in ihr, auch an den Häusern und in den Straßen der Stadt könne sie die Spuren des Krieges noch heute lesen: „In Berlin laufen wir alle über die schlafenden Zünder von Bomben.“ Der Krieg, so kommentierte sie dies Zitat, sei nie abwesend – sei es der, den eine frühere Generation in Berlin erlebte oder jener, der Widad Nabi nach Berlin geführt hatte.
Diese glitt erneut in einen rhythmischen Lesefluss auf Arabisch. Und während wir das Gedicht „Der Ort von Erinnerung beleuchtet“ im Original hörten, griff die rechte Hand der Lyrikerin mit einer raschen Bewegung in die Luft, öffnete und schloss sich dann ebenso schnell wieder.
„Die Entfernung ist
eine Zwangsgeografie,
trennt zwei Städte voneinander.
Zwischen ihnen Tausende von Meilen,
in einer hast du deine Kleider auf der Wäscheleine gelassen,
in der zweiten streckst du deine Hand in die Luft,
um deine Kleider von der Terrasse in der ersten zu nehmen.“
Vor meinem Auge entstand das Bild einer Person zwischen den Orten: In der Realität war sie meilenweit von ihrem Ursprung entfernt, in der Erinnerung war dieser zum Greifen nah.
Welche Nähe entstehen kann, wenn man die Literatur nicht nur als Raum der Erinnerung, sondern als Raum des Dialogs über die Erinnerung begreift, zeigte das Ergebnis der gemeinsamen Korrespondenz zwischen den zwei Autorinnen, von der sie im Anschluss an die Lesung ihrer Gedichte berichteten. Obgleich sie bislang völlig unterschiedliche Lebenswege gegangen waren, so Annett, habe sie auf Anhieb eine intensive Bindung zu Widad empfunden – noch bevor sie diese zum ersten Mal traf.
Hätte ihr jemand einen Packen Gedichte gegeben mit der Bitte, eines daraus auszusuchen und „Der Ort von Erinnerung beleuchtet“ wäre dabei gewesen, so hätte sie dieses unter Hunderten ausgewählt. „Traurig ist, dass du die Ruinen deines Hauses im Traum besuchst und zurückkehrst ohne Staubspuren an deinen Händen.“ Als Annett dies las, musste sie an ein Gedicht denken, welches sie selbst vor 25 Jahren geschrieben hatte und das über Zeit und Geografie hinaus mit dem von Widad korrespondiere, da beide den Gedanken teilen, dass Häuser ein Gedächtnis besitzen.
„ich trug die möbel die treppe hinauf
ich fing die gläsernen spatzen und tauben
aus dem keller trug ich die toten
in ihre wohnung zurück frau loeffler
zog ein kleid an aus luft
in der mode der dreißiger.“
In „Das verschwundene Haus“ imaginiert Annett Gröschner den Wiederaufbau eines Hauses, in dem Möbel verrückt, Kalender abgerissen und Uhren zurückgedreht werden, um die Toten aus den Trümmern im Keller zurück in ihre Wohnungen zu tragen. Frau Löffler, ergänzte die Autorin, hatte es wirklich gegeben, ihr Name stand 1943 im Berliner Adressbuch unter der Adresse Prenzlauer Berg, Rykestraße 27.
Als Reaktion auf die literarische Verbindung zwischen ihr und Widad konzipierte sie wiederum einen neuen Text, der ihre beiden Gedichte sowie ihre erste Begegnung miteinander verwebte:
„Das Leben wird nicht so schlimm, / es schenkt dir ein neues Haus. / Aber deine Seele bleibt ein Wolf, / der jede Nacht heult / auf der Stufe deines alten Hauses, sagt Widad.
Das einzige, was an dem Ort meines Gedichtes unverändert blieb, sind die Steine, mit denen die Gehwege gepflastert sind. Ich ging mit Widad diese Wege meiner Recherchen und plötzlich blieb sie stehen, zeigte auf die Pflastersteine und sagte: „Sie erinnern mich an Aleppo. Dort gibt es auch diese gepflasterten Wege (…).“
Nachdem Annett ihren Text mit dem Titel „Unter Hunderten“ vorgetragen und die Begegnung mit Widad aus ihrer Perspektive geschildert hatte, hielt sie inne und wartete, dass ihre Schreibpartnerin die Worte in der Übersetzung durch ihre Sitznachbarin Leila Chammaa erreichten. Auch Widad konnte sich noch gut an das erste Treffen am Schauplatz des verschwundenen Hauses erinnern, kam es in der Übersetzung aus dem Arabischen zurück. Doch während Annett jenen Innenhof, in dem sie damals gemeinsam standen, mit der Recherche zu ihrem Gedicht und dem Gedanken an die Verschüttung ihrer Mutter verband, kamen in Widads Erinnerung beim Anblick des Pflastersteins nicht nur die Bilder von Aleppo zum Vorschein.
Wie wir infolge ihrer literarischen Antwort auf Annetts „Unter Hunderten“ erfuhren, hatte genau dieses Haus in Berlin bereits die Spuren ihrer Schritte gespeichert. In ihm hatte Widads Freund gelebt und sie selbst hatte aus einem der Fenster in den Hof hinabgeschaut. Nun, so erklärte sie, als sie mit ihrer Freundin Annett an diesen Ort zurückkehrte, wurde sie zur fremden Besucherin, die den Blick nach oben zum Fenster richtete. Die Zeit verändert den Standpunkt, von dem aus wir die Dinge betrachten.
Gebannt lauschte ich den Frauen, die vor mir am Tisch saßen und sich gemeinsam auf zwei Sprachen über Erfahrungen aus unterschiedlichen Zeit-und Raumkontexten unterhielten und dabei dennoch nachempfanden, was die jeweils andere fühlte. Wie es sich anfühlte, wenn Orte einen im Stich ließen und, ob der geographischen Distanz, in der Erinnerung wiedereinholten.
Als Ines Kappert den Blick abschließend über die Menschen im Publikum schweifen ließ und sich nach Rückfragen erkundigte, meldete sich eine Frau, die während des Gesprächs der Autorinnen aus dem großen Seitenfenster der Bibliothek geschaut hatte. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, sodass ich kaum etwas erkennen konnte, als sie durch die Scheibe hindurch auf den Parkplatz deutete. Es sei mehr eine Beobachtung, die sie teilen wollte: Während sie den Frauen zugehört hatte, sei ihr draußen eine Person aufgefallen, die ein Wohnmobil mit der Aufschrift „Lux“ geparkt hatte. Und so endete die Veranstaltung mit dem Bild eines „mobilen Hauses“, in dem wir unsere Erinnerungen zu jeder Zeit, an jeden Ort mitnehmen können.
„Die Dunkelheit gedeiht
in den verlassenen Häusern
wie das Kraut im April.
Trotzdem ist der Ort von Erinnerung beleuchtet.“
(Widad Nabi)