Erzählsalon und Lesung in der Charlotte-Dessecker-Bücherei am 1. März 2016 mit Jürgen Bulla, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Margarete Moulin, Steven Uhly und Andreas Unger.
Text: Fridolin Schley
Etwa fünfzig Gäste, die meisten aus der Umgebung, kamen ins Pullacher Bürgerhaus, um einen Abend zu erleben, der aus ganz unterschiedlichen Perspektiven um das Phänomen des Fremden kreiste und dieses in ein konkretes Kennenlernen überzuführen versuchte. Denn die sechs Münchner Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die vor allem Beiträge aus einer gemeinsamen Anthologie gegen Fremdenfeindlichkeit lasen, wechselten sich mit vier geflüchteten jungen Männern aus Syrien und dem Senegal ab, die über ihre Flucht, ihren Aufenthalt in Deutschland und ihre Pläne für die Zukunft berichteten. Im Publikum saßen weitere syrische Flüchtlinge, die derzeit in einer Massenunterkunft in München leben und nach Pullach gekommen waren, um, wie ihr ‚Flüchtlingshelfer‘ sagte, „einmal zu sehen, dass es in der Gesellschaft noch andere Zugänge zu ihren Situationen gibt“, als es sich ihnen momentan über die Medien oft darstelle. Natürlich schwebte unweigerlich das jüngste Gewaltgeschehen aus Clausnitz und Bautzen über dem ‚Begegnungsort‘ – und die neueste Statistik, wonach es schon 2015 fast 1000 Angriffe gegen Flüchtlinge oder ihre Unterkünfte gegeben hat. Im Schnitt drei am Tag.
Aus meiner Sicht wurde es eine vielseitige, intensive, aber manchmal auch schwierige Begegnung. Wahrscheinlich war meine Vorstellung von vorneherein naiv gewesen, dass man Menschen aus drei so unterschiedlichen Ländern und Kulturen, mit ihren ganz verschiedenen Erfahrungen, Verletzungen und Erwartungen nur an einem solch bildungsbürgerlich getränkten Ort zusammenbringen und diesen mit behutsamen literarischen Annäherungen federn müsse, und schon wachse in Austausch und Wohlgefallen zusammen, was in der gesellschaftlichen Integrationsrealität oft durch vielfältige Schwierigkeiten getrennt ist. Diese beginnen ja schon bei der sprachlichen Verständigung, und das machte der Abend manchmal spürbarer, als es geplant oder für die Teilnehmer und Anwesenden, naja, angenehm war. Aber soll und darf das der Anspruch sein? Eine gefällige Performance?
In den meisten Momenten schienen die Texte und Gespräche zu fruchten, auch das Publikum stellte Fragen, sparte Heikles nicht aus – wie die fast schon obligatorische Schleierthematik, die Rolle und Zukunft des syrischen Diktators Assad oder die mitunter vernachlässigte Rolle der Ehefrauen bei der Integration der geflohenen Familien. Glatter Gleichklang stellte sich so nicht ein. Es gab immer wieder auch Missverstehen, Augenblicke der Hemmung und des bedrückten Schweigens. Doch ich glaube, genau das müssen wir lernen, auszuhalten. Denn so funktioniert Kennenlernen, an einem einzelnen Abend wie diesem, aber vor allem an den tiefer fassenden gesellschaftlichen Graswurzeln, im Alltag der Gemeinden und Kommunen.
Die anwesenden Autorinnen und Autoren waren Jürgen Bulla, Sandra Hoffmann, Katja Huber, Margarete Moulin, Steven Uhly und Andreas Unger. Sie lasen mal lyrische Texte über das Fremde, mal essayistische Reflexionen über verschiedene Ausprägungen des Rassismus oder betrieben einen humorvoll-subversiven Indizienprozess gegen die eigenen Gedanken, gegen den „Pegiden in mir“. Die Journalistin Margarete Moulin, die seit Jahren ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe engagiert ist, berichtete über einen konkreten von ihr betreuten Fall drohender Abschiebung.
Nach jeweils zwei Texten setzten sich die Geflohenen dazu, zunächst Jamal Aloudtallah und Diaa Saleh, beide aus der syrischen Hauptstadt Damaskus. Vor gut einem Jahr kamen sie nach Deutschland, nach zäher, fünfmonatiger Flucht, zunächst allein, später konnten sie ihre Familien nachholen. Man habe sie hier sehr offen aufgenommen, erzählten sie, und nein, von der drastischen Verschärfung der Stimmung gegen Flüchtlinge wüssten sie eigentlich nur aus den Medien, nicht aus eigener Erfahrung. Mit jeder Frage öffneten sie sich nun ihrerseits mehr, verloren rasch die Scheu vor der Bühne und berichteten in erstaunlich fließendem Deutsch von ihren Kindern, von den Wohnungen, die sie nun bezogen haben, und von ihren Berufen. Nur als die Frage auf die Zukunft Syriens kam, auf die Rolle Assads, entschuldigten sie sich, über den syrischen Krieg würden sie sich lieber nicht äußern, schon weil sie noch Verwandte und Freunde dort hätten, die sie nicht gefährden wollten. Da war die Bedrohung des Krieges plötzlich doch sehr anwesend, mitten in dieser oberbayerischen Gemeinde. Bei aller – wie soll man das sagen? – bewundernswerter Mustergültigkeit ihres Auftretens und ihrer Integration klang hier eine Dringlichkeit an, die dem harmonischen Miteinander als wichtiges Korrektiv diente: Den beiden und ihren Familien scheint es gut zu gehen. Aber damit ist noch lange nicht alles gut. Und nicht nur, weil noch immer Krieg herrscht. Auch ihre Berufe vermissen sie sehr, Jamal Aloudtallah etwa ist Anästhesist. Sie wollen wieder arbeiten, richtig arbeiten, ihren Ausbildungen angemessen. Das wurde als ihr größter Wunsch für die kommende Zeit deutlich – zusammen mit ihrem Optimismus, ihrer Hoffnung. Die bürokratischen Verfahren für eine Arbeitsberechtigung laufen.
Was sich bei den beiden Syrern mehr zwischen den Zeilen andeutete – all die zermürbende Unsicherheit, die traumatischen Erfahrungen, die Härten in der Fremde, die Sehnsucht nach dem Vertrauten – wurde im zweiten Gespräch mit Abdoulaye D. und Souley S. fast schmerzlich greifbar. Wie hoch allein schon die Hürden der Mitteilung, des Verstehens und Verstandenwerdens für sie sein müssen – und das die ganze Zeit – deutete sich an, als Abdoulaye D. gleich zu Beginn sagte, er könne dem Abend sprachlich leider kaum folgen – und ich ihn dabei nun meinerseits mehrfach nicht verstand. Meine Kolleginnen und Kollegen mussten mir zu Hilfe springen. Ein beklemmendes Gefühl. Wie muss es ihm da erst gehen? Jeden Tag. Dass er, von der exponierten Bühnensituation zusätzlich verunsichert, leise und stockend sprach, spürbar Distanz wahrte zu Mikrophon und Publikum, aus dem es bald „Lauter, lauter!“ tönte, verstärkte das Dilemma noch.
Wahrscheinlich wären hier längere Vorgespräche meinerseits und ein genaueres Vorbereiten auf den Ablauf nötig und besser gewesen (oder gleich eine offenere, nicht so frontale Sitzanordnung); so übertrug sich vor allem Abdoulaye D.s Unwohlsein. Doch je mehr er sich – nach und nach – verständlich machen konnte, einmal auch mit Hilfe seiner anwesenden Sprachlehrerin, desto augenfälliger wurde, dass sich jenes Unwohlsein eben nicht nur auf seine Position an diesem Abend bezog, sondern auf seine Gesamtsituation: So sehr er auch versuche, die deutsche Sprache zu lernen, betonte er immer wieder, und so dankbar er Menschen wie seiner Lehrerin sei, so schwierig bleibe es doch, so groß die Distanz zur Gesellschaft. Es geht ihm einfach nicht gut hier. Seine Familie ist noch in der Heimat, seine Tochter hat er seit sechs Jahren nicht gesehen. Nun möchte er Geld für eine Werkstatt sammeln und freiwillig zurückgehen – wohl auch, um einer Abschiebung zuvorzukommen. Denn Senegal gilt offiziell als sicher.
Wie realitätsfremd diese Einstufungen oft sind (die Schriftstellerin Sandra Hoffmann wusste später Ähnliches von ihrer Reise nach Albanien zu berichten), erschloss sich spätestens, als der zweite senegalesische Flüchtling Souley S. von der Ermordung seines Vaters zu Hause erzählte. In Ländern wie dem Senegal herrschen oft blutige Konflikte zwischen Clans; in die gängigen Muster von Diktatur, islamistischem Terror oder Bürgerkrieg passt das mitunter nicht – aber das macht sie noch lange nicht zu ‚sicheren Herkunftsländern‘.
Darf man jemanden wie Souley S. überhaupt nach seiner Flucht fragen? Ich bin mir im Nachgang nicht mehr so sicher. Zu verfolgt vom Grauen schien er noch zu sein, als er zögerlich zu antworten begann. Aber: er berichtete trotzdem, leise und ausführlich, auf Französisch und Stück für Stück übersetzt von der Journalistin Margarete Moulin, die spontan und so klar wie einfühlsam assistierte – berichtete von der langen Reise, den Schleusern und den Booten. Den Schrecken selbst musste er dabei nicht in Worte fassen; er war ihm ins Gesicht und auf die Stimme geschrieben.
Den Abschluss, bevor sich Publikum und alle Beteiligten zu einem kleinen ‚Empfang‘ versammelten und zu neuen Gesprächen mischten – die Bücherei hatte großzügig für Essen und Trinken gesorgt –, bildete die Geschichte Fremdkörper von Sandra Hoffmann, in der sie sich an Orhan erinnert, einen türkischen Kindheitsfreund und Gastarbeitersohn mitten auf dem spießigen schwäbischen Land der frühen Siebzigerjahre. Daran, wie er ihr als Kind irgendwann ganz selbstverständlich vertraut geworden war, allein schon dadurch, dass sie beide da waren, dass sie das Dorf, die Schule, die Orte teilten und sich dort begegneten. „Es war also, als ich vier Jahre alt war, als mein Körper so ganz nebenbei den Körper eines türkischen Jungen kennengelernt hat. Orhan Kutlucan pinkelte auf der gleichen Kindertoilette wie ich, und Schwester Soteris schlug ihm mit dem Kehrwisch genauso den Arsch voll wie mir, wenn er Schimpfworte sagte.“ Und sie glaube, so lautet der letzte Satz, dass in Sachen Offenheit gegenüber dem Fremden manchmal der eigene Körper längst mehr weiß als der Kopf. Dass der Kopf vom Körper lernen kann.