Es ist ein Ringen um die menschliche Würde, das die neuesten Texte syrischer Autorinnen und Autoren prägt. Die Übersetzerin Larissa Bender stellte bei Meet your neighbours am 1. Juni 2017 im Literarischen Colloquium Berlin die in Trier lebende Lyrikerin Rasha Habbal vor sowie den Dichter Yamen Hussein, der mit einem Writers-in-Exile-Stipendium nach München kam. Außerdem las Peer Martiny Miniaturen aus Niroz Maleks „Der Spaziergänger von Aleppo“.

Niroz Malek, so erfahren wir bei der Begrüßung, lebt und schreibt in Aleppo. Er ist nicht, wie die zwei Autor*innen auf dem Podium, aus seiner Heimat geflohen, als dort der Krieg ausbrach. An seiner Stelle lesen daher Yamen Hussein und der Schauspieler Peer Martiny auf Arabisch und Deutsch Miniaturen aus „Der Spaziergänger von Aleppo“ (Weidle Verlag). Schon nach der ersten gelesenen Erzählung wird deutlich, warum dieser Autor sein Zuhause nicht verlassen wollte, oder besser gesagt, es nicht konnte.
Ich ging in die Küche, blieb mitten im Raum stehen und
fragte mich wieder: Was hat dich jetzt in die Küche verschlagen?
Willst du dir selbst beweisen, daß die Kämpfe
nun in deiner Wohnung stattfinden? Ich wußte keine Antwort.
Beunruhigt kehrte ich in mein Zimmer zurück, um
weiterzuschreiben. Da fragte sie: Und? Willst du nicht wie
die anderen Leute Dokumente und Habseligkeiten für die
Flucht in deinen Koffer packen? Du unterscheidest dich
doch nicht von all den anderen, die aus den Stadtvierteln
fliehen, die bereits in Schutt und Asche gebombt wurden.
Ich sah sie an und dachte über ihre Worte nach. Dann
lächelte ich und erwiderte: Glaubst du wirklich, daß
ich meine Wohnung verlasse? Daß ich meinen Tisch zurücklasse,
an dem ich gearbeitet und meine Geschichten
und Romane geschrieben habe? An dem ich die Cover für
meine Werke entwarf und Hunderte und Aberhunderte
Bücher las? Ich sagte zu ihr: Ich werde meine Wohnung
nicht verlassen. Was immer auch geschieht, ich werde
nicht fortgehen.
Während Peer Martiny den Dialog des Spaziergängers mit angenehm ruhiger und dennoch kraftvoller Stimme liest, fällt mir ein Zeitungsartikel ein, den ich vor einigen Monaten gelesen habe. Darin ging es um einen älteren Mann, der lieber in seiner von Bomben zerstörten Wohnung in Aleppo bleiben wollte, als seiner Stadt und seinem Land, aber vor allem auch seinem Alltag den Rücken zu kehren. Heute kann ich mich nicht mehr erinnern, wo genau ich diesen Artikel gelesen habe, aber das Bild dieses Mannes zwischen all seinen Habseligkeiten sehe ich mit einem Mal ganz deutlich vor meinen Augen. Man kann die eigene Seele nicht einfach „in einen Koffer stopfen“. Flucht ist eine Option mit Risiko.
Das bestätigt auch die syrische Schriftstellerin Rasha Habbal an diesem Abend. Als die Übersetzerin und Moderatorin der Veranstaltung, Larissa Bender, sie darauf anspricht, dass sie mit einem ihrer Kinder aus Syrien „vorgeflohen“ ist und ihr Mann und das zweite Kind nachgeholt hat, ist ihrem Gesicht deutlich abzulesen, dass dies wohl eine der schmerzhaftesten Entscheidungen in ihrem Leben gewesen sein muss. Ursprünglich hatte sie diesen Weg allein gehen wollen, doch in der Nacht vor ihrem Aufbruch stand mit einem Mal eines ihrer Kinder an ihrem Bett und sagte: „Ich habe dir nicht erlaubt, mich allein zu lassen.“ Was soll eine Mutter in solch einem Moment tun? Im Konflikt mit sich selbst, ob sie ihr Kind im Stich lassen oder es den Strapazen einer gefährlichen Flucht übers Mittelmeer aussetzen soll, entschied sie, das Kind mit sich zu nehmen. Doch auch wenn sie es geschafft hat und ihre Kinder und ihr Mann inzwischen gemeinsam mit ihr in Trier leben, bedeutet dies nicht, dass sie kein Leben zurücklassen musste.
Eindringlich beschreibt sie in ihrer Erzählung „Scheckige Hände“ die auf Arabisch von ihr und in der Übersetzung von Larissa Bender vorgetragen wird, welche Erinnerungen die Handschrift ihres Vaters in einem Brief an sie hervorruft und welche Freude sie empfindet, als sie ein Paket von ihm erhält, eine Plastiktüte voller Erinnerungen an ihre Familie und das Leben in der syrischen Heimat. Eine „Wundertüte“, die sie auflachen lässt wie ein Kind. „Es waren Überraschungen, die dir Erinnerungen an Details ins Gedächtnis rufen, bis du zu keuchen beginnst, als liefest du zwischen den Wänden deines eigenen Körpers umher.“ Jedes noch so kleine Detail macht sie glücklich: der Geruch von Okraschoten, eine blaue Perlenkette und Ohrringe, die ihr Vater für sie gefertigt hatte, sowie zwei Romane:
Der zweite Roman war aus der Bibliothek meines Vaters und trug eine Widmung von ihm:
»Du hast ein wenig von mir
Und ich habe viel von dir
Die Musik einer aufregenden Kindheit
Und der Schweiß der Tage
Wir haben nun etwas, das wir gut festhalten
Das Salz der flüchtigen Details …«
Die Details eines früheren Lebens. Die Details des Überlebens. „Ist es möglich, dass dein Leben in nur einer Viertelstunde an dir vorbeizieht?“, fragt die Erzählerin sich beim Anblick all der Erinnerungen. Am 17. Juni 2015, so schreibt Rasha Habbal, steht sie zum letzten Mal auf syrischem Boden, doch „was Füße mit Gewalt festhalten, sind Dinge ohne Distanz.“ Sie beschreibt ihren „störrischen Schatten“ während der Flucht, den sie streng erziehen musste und Ähnliches findet sich, anders geschrieben, auch in den Gedichten Yamen Husseins, wenn dieser von Fußreifen, schweren Gliedern und dem Weg durch die Unterwelt spricht.
FUßREIFEN
Deine Fußreifen klingen jetzt
wie eine laute Glocke
in vertrauten Tälern.
Selig sei diese Unterwelt
deine Schritte und der matte Klang
dein wie ein Reim gewichtiger Knöchel
meine Schafe gehen freiwillig
hinter dem Klang her
ohne Führung.
Es ist ein Weg zwischen Leben und Tod. Bei Habbal heißt es in einer ihrer Erzählungen, die an Tagebucheinträge erinnern, dass um sie herum alle tot seien, „ich glaube, ich auch.“ Ein Gedanke, der sich auch in einer Geschichte Maleks zeigt, in welcher der Protagonist nach einer Demonstration verhaftet, verhört und schließlich so lange gefoltert wird, bis er stirbt und fortan aus der Perspektive seines Leichnams berichtet: „Ich hatte das Leben ausgehaucht.“ Füße, Wege, Tod. Ist es das, was die drei Stimmen verbindet? Eine gemeinsame Sprache, Motivik und Erfahrung?
Man habe es hier mit düsteren Texten zu tun, bestätigt Larissa Bender, die zwischen den Lesungen das Gespräch mit ihren Gästen sucht, um eine Verbindung zwischen der Literatur, die sich größten Teils der syrischen Heimat und der Erfahrung von Flucht widmet, und den Erfahrungen in Deutschland zu schaffen. Wie werden sie als Autor oder Autorin hier in Deutschland wahrgenommen? Wie läuft es mit den Deutschkenntnissen und wie denken sie über den Begriff der „Fluchtliteratur“, der sich wie selbstverständlich unter unseren Wortschatz gemischt hat.
Rasha Habbal berichtet von skeptischen Blicken ihres Gegenübers während einer Zugfahrt, auf der sie auf Arabisch telefonierte. Bei Yamen Hussein ist das Problem ein anderes, denn er spricht inzwischen gut Deutsch, trifft in seinem Alltag in München allerdings kaum jemanden, der Zeit hat, sich mit ihm zu unterhalten. Als die Übersetzung dieser Aussage beim Publikum ankommt, geht ein Lachen durch die Reihen. Hussein wirkt wie ein angenehm entspannter Typ mit einem Sinn dafür, tragische Dinge lustig zu erzählen. Aber was ist eigentlich die angemessene Reaktion auf derartige Geschichten? Sollte ich Mitleid verspüren, wenn ich höre, was sie durchgemacht haben und nun in ihrem Alltag in Deutschland auf Ignoranz und Skepsis treffen?
Auf die Frage, wie sie als Autor*innen in Deutschland wahrgenommen werden, bestätigen beide, dass sie vor allem zu Veranstaltungen eingeladen werden, die unter dem Motto Flucht oder Syrien stehen. Veranstaltungen mit anderen (deutschen) Autor*innen, bei denen man sie einzig als Schreibende begreift, bleiben bislang aus. Stattdessen werden sie gefragt, über was sie denn schreiben würden, wenn es den Krieg nicht gäbe. Dann würden sie eben über etwas anderes schreiben. Sie sind Geflüchtete und Autor*innen. Das eine bedingt nicht das andere. Die Flucht, so erklärt Yamen Hussein, ist bei ihm momentan zwar der Auslöser zum Schreiben und es hilft ihm, die Erfahrungen, die er auf dem Weg von Syrien über die Türkei nach Deutschland gemacht hat, in seinen Gedichten zu verarbeiten. Doch die Fluchtliteratur gibt es in seinen Augen nicht. Es gibt die Literatur, egal ob von Autor*innen, wie Niroz Malek in Syrien oder von ihm und Rasha Habbal, die nun in Deutschland leben und schreiben.