22. März 2018

Der Wert einer anderen Perspektive

Am 22. März fand in der Münchner Stadtbibliothek Hadern im Rahmen der Internationalen Woche gegen Rassismus wieder ein Abend der Münchner Reihe „Meet your neighbours“ statt. Die Münchner Autorin Lena Gorelik sprach mit der aus Uganda stammenden Journalistin und Kolumnistin Lillian Ikulumet über ihre Sicht auf München und das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen in einem fremden Land.

Text: Marion Hertle
Lilian Ikulumet während der Lesung in der Bibliothek Hadern.

Trotz Schneeregenwinterniesel fanden an diesem Donnerstagabend viele Interessierte den Weg in die Stadtbibliothek Hadern. Nach der Begrüßung durch den Leiter der Stadtbibliothek Josef Niedermeier gab Lena Gorelik direkt den Ton des Abends vor: Sie fühle sich angesichts der Sitzordnung des Publikums an eine Klassenfahrt im Bus erinnert, bei der sich immer alle auf den hinteren Plätze drängen und niemand vorne sitzen will – und siehe da, der Aufruf wirkte, das Publikum kam näher. Und genau in diesem Sinn sollte es weitergehen, denn mit zum schönsten Teil der Veranstaltung gehörte – das sei gleich vorneweg gesagt –, dass es tatsächlich gelang, die Trennlinie zwischen Publikum und Bühne zu durchbrechen und in einen großen gemeinsamen Dialog einzusteigen.

Lilian Ikulumet ist 37 Jahre alt und vor sechs Jahren aus Uganda ausgewandert, wo sie seit 2001 professionell für überregionale Zeitungen schrieb. Sie erwarb einen Bachelor-Abschluss für Journalismus und Kreatives Schreiben an der Namasagali University in Uganda und einen Master für Medien- und Kommunikationsmanagement an der Hochschule Macromedia in München. Zurzeit arbeitet sie als freie Journalistin in den Bereichen Kultur, Menschenrechte, Migration, Lebensstil und Mode bei der Zeitung NeuLand in München, außerdem hat sie eine Kolumne in der Süddeutschen Zeitung unter der Rubrik „Neue Heimat“.

Lilian Ikulumets erster Text drehte sich um interkulturelle Beziehungen aus der Perspektive einer Uganderin. So schreibt sie, dass ihre erste Beziehung mit einem deutschen Mann ein Kulturschock für beide Seiten gewesen sei. Angefangen mit einer vollkommen unterschiedlichen Perspektive auf das Leben: Sie selbst freue sich über Kleinigkeiten und lebe nach der Devise „Whatever can go wrong, will surely do“, ihr Freund dagegen wollte dem Schicksal nicht so freie Hand überlassen. Ein weiteres großes Problem sei das Zeitmanagement, frei nach der Devise „Europäer haben Uhren, Afrikaner haben Zeit“, so Ikulumet. Dass Zeit für sie keine große Rolle spiele und eine Stunde später als zur verabredeten Zeit aufzutauchen alles andere als ungewöhnlich sei, wurde in ihrer Beziehung zu einem „Megaproblem“ – er wollte gerne planen, und sie fand ihn verspannt.

Auch Liebe und Zuneigung werden, laut Lilian Ikulumet, in Uganda anders ausgedrückt. Zur Begrüßung etwa genüge ein Handschlag, geküsst werde eher zuhause, was für viel Unsicherheit sorgte. Und auch vor der Küche machen die Unterschiede nicht halt. Da in Uganda viele verschiedene Gerichte zu einer Mahlzeit serviert werden, wirkt die bayerische Küche für Lilian Ikulumet eher wie ein Fastentag. Hingegen ist es in ihrer alten Heimat durchaus normal, Knochen zu kauen und auszuspucken – was hierzulande, wie sie feststellen musste, gar nicht gern gesehen wird.

Einzig die Probleme mit dem Rollenbild kannte sie auch aus Afrika, wo sich Westafrika vom Osten deutlich darin unterscheidet, wer für die Familienversorgung aufkommt, und ob der Ehemann auch die Familie der Frau unterstützen muss. In Afrika, so Ikulumet, passt sich meistens die Frau der Kultur des Mannes an, in Deutschland streben Frauen nach Gleichberechtigung – auch das Ankommen in einer interkulturellen Beziehung ist also harte Arbeit.

Nach der Lesung fragte Lena Gorelik, woran sich Lilian nie gewöhnen würde. Spontan fiel der 37jährigen der Diätwahn der deutschen Frauen ein. Ihrer Ansicht nach herrsche in Deutschland ein großer Widerspruch: Es gebe so viel zu essen, und trotzdem hielten fast alle Diät und essen nur Kleinigkeiten. Der zweite große Unterschied sei die öffentliche Zurschaustellung privater Gefühle – noch immer küsse sie ihren Partner ungern in der Öffentlichkeit.

Als nächstes wollte Lena Gorelik wissen, wie sie mit der typischen deutschen Frage „Wie geht es dir?“ umgehe. In Deutschland frage man das oft und bekomme in der Regel „gut!“ zu hören. Das, so Lilian Ikulumet, würde in Uganda nicht passieren, denn dort gehe man sofort ins Detail und beantworte die Frage umfassend. Dort sei es keinesfalls nur eine Floskel.

Angesichts des Wetters lag die Frage nahe, wie Lilian Ikulumet mit dem deutschen Winter zurechtkomme. Da Schnee in Uganda immer nur als Watte auf den Weihnachtsbaum geklebt werde, war sie in ihrem ersten Winter noch fasziniert davon, ein Reiz, der sich leider schnell verlor. Jetzt empfinde sie ihn nur noch als schrecklich kalt. Diese Kälte ist aus ihrer Sicht auch für das gemeinschaftliche Zusammenleben nicht besonders zuträglich. So sei es in Uganda ganz normal, regen Kontakt mit seinen Nachbarn zu halten, sie gehörten schon fast zur Familie. In Deutschland habe sie versucht, ihre Nachbarn kennenzulernen, aber die meisten wollten davon nichts wissen. In Uganda gelte die Regel: Wenn jemand laut Musik macht, gibt es auch Essen, also kommen alle zusammen. In Deutschland heiße es eher: Wenn jemand laut Musik macht, kommt die Polizei.

In der Stadtbibliothek Hadern ist jedoch genau das Gegenteil passiert. Das Thema Nachbarschaft – Meet your neighbours – baute die Brücke zum Publikum und mit vielen Wortmeldungen wurde darüber diskutiert, wie sich Nachbarschaft in Deutschland ändern könnte. Gemeinsam wurde überlegt, woran es liegt, dass sich hier viele in ihre eigenen vier Wände verkriechen und wenig Interesse an dem zeigen, was im eigenen Haus oder Viertel vorgeht. Viele Aspekte wurden von allen Seiten genannt – das deutsche Wetter begünstigt einen Großteil des Jahres über ja nicht gerade, dass man sich draußen aufhält, wo es am einfachsten wäre, sich zu treffen. Außerdem herrsche ein Unterschied zwischen Stadt und Land bzw. zwischen Wohnhäusern, bei denen ein Treffpunkt oder Hinterhof fehlt, und architektonisch offen gebauten Siedlungen. In Afrika spielt in diesem Zusammenhang die Kirche eine große Rolle, so wie das vor einiger Zeit in Deutschland noch der Fall war, wo die Kirche auch ein Treffpunkt war und mehr Zusammenhalt innerhalb einer Gemeinschaft schuf. Heute muss man sich dafür oft neue Orte und neue Organisationen suchen, und vielleicht können wir mit unseren „Meet your Neighbours“-Veranstaltungen dazu einen kleinen Beitrag leisten. An diesem Abend jedenfalls hat es wunderbar funktioniert.