21. März 2017

Es ist nicht ein einziger Tropfen Wasser im Meer vor Mersin

Um die Poesie und die kulturelle Sprachvielfalt zu feiern, luden das Haus für Poesie und seine Partner – darunter auch das Aktionsbündnis WIR MACHEN DAS – unter der Schirmherrschaft der UNESCO am 21. März zum Welttag der Poesie in Berlin zu einem Konzert aus Versen, Sprachen und Stimmen ein. Über 200 Menschen waren der Einladung ins Max Liebermann Haus gefolgt, um den Gedichten von fünf verschiedenen Lyriker*innen aus fünf verschiedenen Ländern zu lauschen.

Text: Marie Krutmann
Der Lyriker Aref Hamza aus Syrien. Foto: Rolf Zöllner/Gezett
Der Lyriker Aref Hamza aus Syrien.

Kultur könne und müsse gesellschaftliche Dinge bewegen, hieß es in den Begrüßungsworten des Vorsitzenden der Stiftung Brandenburger Tor, Pascal Decker, dem es ein Anliegen war zu betonen, dass man mit einem lyrischen Abend wie diesem, mit Menschen aus verschiedenen Herkunftsländern, auch auf politischer Ebene bewusst ein Zeichen setzen wollte. Beim Welttag der Poesie geht es um den Austausch und Zusammenhalt zwischen den Kulturen – und das nun schon zum 18. Mal, wie wir anschließend vom Leiter des Hauses für Poesie, Thomas Wohlfahrt, erfuhren. „Es sind gute Zeiten für Lyrik“, versicherte er und überreichte das Mikro an den Moderator der Veranstaltung, Knut Elstermann.

Was uns als nächstes erwarten sollte, sei eine Lesung aus Texten in der Originalsprache und der deutschen Übersetzung, die im Kopf vermischt, das besagte Klangkonzert erzeugen würden. Für mich klang diese Vorstellung erst einmal eher nach Sprachverwirrung: Englisch, Mazedonisch, Arabisch, Bulgarisch und zwischen alledem noch die deutsche Übersetzung? Doch er sollte Recht behalten. Als zwei Frauen die Bühne betraten und nacheinander auf Deutsch und Englisch die ersten Verse eines Gedichts von Alice Miller vortrugen, ergab sich in meinem Kopf ein harmonischer Singsang aus der einerseits sehr ruhigen Stimme Christiane Langes und den andererseits auffordernd schnelleren Worte der jungen neuseeländischen Dichterin, die in ihren Texten über zukünftige Tage, die wir nie geschehen lassen, immer neue Fragen aufwarf: How do you sing when your brain is gone? Wobei die Fragen teilweise erst in der deutschen Übersetzung zu konkreten Fragen wurden. If heaven has seasons – Gibt es im Himmel Jahreszeiten?

Ebenso intensiv, aber auch traurig wurde es anschließend, als Nikola Madzirov aus Mazedonien mit seiner Übersetzerin für die Lesung, Katharina Narbutovič, das Podest betrat und zum Mikro griff. In leisem Englisch erklärte er, er freue sich über die Möglichkeit, in Berlin, „am anderen Ende der Welt“, ein Gedicht über seine Heimat zu lesen. Er wolle zuvor jedoch an einen befreundeten Musiker erinnern, der ein paar Tage zuvor leider verstorben sei. Als er dann zu Lesen begann, veränderte sich allerdings nicht nur die Sprache, auch seine Haltung und Stimme gewannen mit einem Mal an Kraft, die sich, ohne dass ich auch nur ein Wort verstand, auf mich und den Rest des gebannten Publikums übertrug. Man kann auch etwas verstehen, wenn man nichts versteht. Madzirov, so zeigte sich schließlich in der deutschen Version des Gedichts, schreibt über seine Heimat und eine Generation, die unfreiwillig die Nachfahren von Geflüchteten wurde.

 Katharina Narbutovic und Nikola Madzirov. Foto: Rolf Zöllner/Gezett
Katharina Narbutovic und Nikola Madzirov, Mazedonien.

Das Wort Flüchtling spielte auch bei dem syrischen Dichter Aref Hamza eine große Rolle. Wie wir aus der Anmoderation von Knut Elstermann erfuhren, lebt Aref Hamza heute mit seiner Familie in Niedersachen, seine zwei Kinder sprechen bereits perfektes Deutsch. Hamza selbst ist dagegen jemand, der statt in die Zukunft vor allem in die Vergangenheit zurückblickt, seitdem er seine Heimat Aleppo verlassen hat. Thomas Wohlfahrt, der neben Aref Hamza auf der Bühne stand, um dessen Langgedicht auf Deutsch vorzutragen, erzählte uns, dass es noch keinen endgültigen Titel, allerdings zwei Vorschläge für das Gedicht gebe: „So habe ich die Hoffnung verloren“ oder „Wie wenn du dich umdrehst zu mir“. Wohlfahrt erklärte, er bevorzuge den zweiten Titel, da die Botschaft darin weniger aussichtslos sei. Man könne sich im Anschluss an die Veranstaltung also gerne bei dem Autor melden, um ihn wegen der Titelwahl zu beraten, scherzte Wohlfahrt weiter. Doch dann wurde es wieder ernst, als Aref Hamza selbst das Wort ergriff.

Im Mittelpunkt der Geschichte, die er zwischen den schnell vorgetragenen Versen erzählte, steht die Stadt Mersin an der türkischen Mittelmeerküste, einem Ankunftsort vieler syrischer Flüchtlinge. Hamza beschreibt darin, wie er am Strand nach verwandten Überlebenden oder Ertrunkenen suchte, aber auch, wie er in die Gesichter der einheimischen Leute sah, deren Augen nicht aus Trauer und Verlust, sondern lediglich des Regens wegen feucht waren. Hier hat keiner geweint. / Es ist nicht ein einziger Tropfen Wasser im Meer vor Mersin.

Doch auch wenn es in Mersin und hier in Deutschland für viele nicht so scheint – all das ist wirklich geschehen. Sein Fuß blutete schließlich noch immer, wegen der Wunde, die er sich auf der Flucht an einem Stacheldraht zugezogen hatte. Diese Ambivalenz zwischen der scheinbar heilen Welt, dem Verdrängen des Vergangenen und dem schmerzhaften Blick zurück zieht sich gemeinsam mit den Bildern von vorbeiziehenden Vögeln und dem Rauschen des Mittelmeers durch diesen lebhaften, tragischen Text. Ich wollte hingehen und das Meer zudecken mit einem Schal – das zitternde. / Die Luft ist erstickend sauber. / Ich wollte in einer Stadt am Meer leben, um dem Meer den Rücken zu kehren. Während er las, bewegte der Autor seine rechte Hand im Rhythmus seiner Worte, auf und ab wie das Meer und hielt sie dann schließlich wieder ganz still, fast mahnend. Ich werde als Flüchtling zurückkehren.

Deutschland, Berlin, 21, Welttag der Poesie feiert die Vielfalt von Sprache, Stiftung Brandenburger Tor, Max Liebermann Haus, Aref Hamza, Syrien (re.), Dr. Thomas Wohlfahrt, Leiter Haus für Poesie, © Rolf Zoellner.
Thomas Wohlfahrt, Leiter des Hauses für Poesie, und Aref Hamza im Max Liebermann Haus.

Mit diesen Bildern im Kopf ging der Abend weiter. Mirela Ivanova aus Bulgarien stellte sich auf Deutsch vor, wollte dann aber doch auf ihrer Muttersprache lesen, für die Bulgaren im Publikum. Sie freue sich besonders an diesem Tag, an diesem Ort und in dieser Stadt, in Berlin, zu sein. 1991 war sie zum ersten Mal in der deutschen Hauptstadt gewesen und davon beeindruckt, hatte dass sie ein Gedicht über ihren Aufenthalt geschrieben. Als sie dieses vortrug, verstand ich wieder nichts, bis auf die Straßen und Ortsnamen: Unter den Linden, Hauptbahnhof, Dahlem und Pankow, die sich ganz vertraut unter die bulgarischen Wörter mengten. Ja, es war ein Klangkonzert, aber da in fast allen Gedichten dieser verschiedenen Lyriker*innen die Orte besonders bildhaft beschrieben wurden, zeichnete sich in meinem Kopf zeitgleich das Bild einer Karte mit – mal war es eine Landkarte, dann wieder der Stadtplan von Berlin.

Mirele Ivanova, Bulgarien.

Zum krönenden Abschluss gab es dann noch etwas Deutsches von Bas Böttcher auf die Ohren, der bei seiner beachtlichen Körpergröße nur knapp aufrecht auf dem Podest und unter der Deckenbeleuchtung stehen konnte. Da er seine Texte aber ohnehin frei vortrug, ohne dafür am Pult lesen zu müssen, nutze er die Bühne, um sich, passend zu seiner Spoken Word Performance, gestikulierend links und rechts zum Publikum hinzubewegen.

Deutschland, Berlin, 21, Welttag der Poesie feiert die Vielfalt von Sprache, Stiftung Brandenburger Tor, Max Liebermann Haus, Bas Böttcher, Deutschland, © Rolf Zoellner.
Bas Böttcher.

Dabei gab es zwar keine neue Sprache zu erkunden, doch auch über die Dinge, die vertraut scheinen, ließ sich noch etwas Neues lernen. So wie über das Märchen der Bremer Stadtmusikanten, das parallel zur Situation Geflüchteter gelesen werden konnte: Bevor Hunde entscheiden auf Esel zu steigen und Katzen ihre Feinde die Hunde besteigen, bevor Vögel auf ihre Metzger die Katzen sich setzten und die vier ihre Rivalitäten vergessen und sich auf die Reise begeben allein, muss was Schlimmes geschehen sein. Doch dadurch, dass sie zueinander und aufeinander standen, waren sie gemeinsam so groß wie Giganten.

Abgerundet durch die dann folgenden abschließenden Worte Christine Merkels von der Deutschen UNESCO-Kommission ging der Abend mit einem Appell aus vier Stichworten und der Aufforderung, diese stets aufs Neue zu buchstabieren zu Ende: Frieden, Vielfalt, Freiheit und Innovation. Worte, die auch eine gute Zusammenfassung dieses Abends bilden, wie ich finde.