14. April 2018

Exil nicht nur als Tragödie, sondern als Chance?

Bei der 49. Meet your neighbours Veranstaltung sprach die Berliner Schriftstellerin Svenja Leiber am 14. April im Museum Europäischer Kulturen mit vier der arabischen Frauen, die Heike Steinweg in ihrer Ausstellung „Ich habe mich nicht verabschiedet | Frauen im Exil“ porträtiert. Sie alle teilen den Mut, sich in Deutschland ein neues Leben aufzubauen.

Text: Marie Krutmann
Mit Fotografien von Alexander Janetzko

Die Zuschauer saßen umringt von den Porträts der Frauen. Foto: Alexander Janetzko
Die Zuschauer saßen umringt von den Porträts der Frauen.

In Heike Steinwegs Ausstellung „Ich habe mich nicht verabschiedet | Frauen im Exil“ wird die Kunst zum Betrachter. Von allen vier Seiten des Raums blicken mir die Gesichter verschiedener Frauen entgegen. Stühle in der Mitte des Raums laden dazu ein, in ihrem Kreis Platz zu nehmen. Um eines der Porträts genauer zu betrachten, muss man aufstehen und auf das lebensgroße Bild der jeweiligen Frau zugehen. In gewisser Weise wird das Thema der Meet your neighbours-Gesprächsrunde somit bereits auf räumlicher Ebene verhandelt. Wir teilen uns einen Raum und kommen einander näher, indem wir aktiv auf die Frauen zugehen, anstatt sie aus der Ferne zu beobachten.

Wie zur Bestätigung dieses Eindrucks eröffnet Annika Reich von WIR MACHEN DAS die Veranstaltung mit einem Anliegen. Bei den Begegnungen der Meet your neighbours-Reihe gehe es darum, zu zeigen, dass wir die Welt teilen können und wollen. Um eine gemeinsame Begegnung auf Augenhöhe zu schaffen, müsse man jedoch lernen, einander ohne Stigma zu betrachten. „Ohne all das, was den Menschen, die wir sehen, bereits passiert ist“, erklärt Heike Steinweg, die gemeinsam mit Dr. Irene Ziehe, der stellvertretenden Museumsdirektorin, das Publikum und die Gäste auf dem Podium willkommen heißt:

„Mir ist es von Anfang an wichtig gewesen, dass die Frauen an dem Projekt aktiv beteiligt sind, dass sie sich in ihren eigenen Worten äußern können und über Themen sprechen, die ihnen am Herzen liegen. Den Blick nach vorne gerichtet, auf ihre Wünsche und Hoffnungen, auf die Schwierigkeiten und Herausforderungen des Exils.“

Dr. Irene Ziehe, stellvertretende Museumsdirektorin, Annika Reich und Svenja Leiber. Foto: Alexander Janetzko
Dr. Irene Ziehe, stellvertretende Museumsdirektorin, Annika Reich und Svenja Leiber.

Vier dieser Frauen sind Hend Al Rawi, Arwa Almoadhen, Lama AL Haddad und Lina Al Haddad, die an diesem Nachmittag mit Svenja Leiber über ihr Leben im Exil sprechen. Als sie die vier darum bittet, sich dem Publikum vorzustellen, greift Hend zum Mikrofon und verkündet, sie würde ihre Antwort gerne auf Deutsch versuchen. Wir erfahren, dass Hend in ihrer Heimat Damaskus als Englischlehrerin gearbeitet hat. Seit 2015 lebt sie in Berlin, wo sie bei der Cisco Networking Academy arbeitet, genau wie ihre Sitznachbarin Arwa aus dem Irak, die in Bagdad als IT-Professorin tätig war. Auf das darauffolgende Raunen im Publikum erwidert Arwa lächelnd, dass MINT-Berufe für Frauen im Irak etwas ganz Normales seien.

Als ich Arwa zuhöre, kommen mir Heike Steinwegs einleitende Worte in den Sinn: „Viele dieser Frauen bringen andere Normalitäten mit, von denen wir noch einiges lernen können.“ Mit Stolz hatte sie von den sehr persönlichen Begegnungen bei ihrem Fotoshooting berichtet. Exil nicht nur als Tragödie, sondern als Chance? Diese Chance bezieht sich nicht allein auf das Schicksal der Frauen, die im Exil leben. Auch wir, das (überwiegend weibliche) Publikum, können von dieser Erfahrung profitieren.

Hend Al Rawi und Arwa Almoadhen. Foto: Alexander Janetzko
Hend Al Rawi und Arwa Almoadhen.

Jede Geschichte ist einzigartig und Exil bedeutet für jede etwas anderes

„Ich genieße das Leben hier, ich genieße sowohl die Herausforderungen und den Stress, die damit verbunden sind, als auch die Autonomie, Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung, die ich Schritt für Schritt erreiche. Ich nehme nichts als gegeben an, sondern erinnere mich immer daran, dass nichts für immer bleibt. Und dass ich aus dem, was ich habe das Beste machen muss.“

So steht es unter dem Porträt von Lama, die an diesem Nachmittag als Übersetzerin neben ihrer Schwester Lina auf dem Podium sitzt. Lama hat ihre Heimat Syrien vor 5 Jahren verlassen. Als der Krieg in Syrien ausbrach, schickten ihre Eltern sie nach Süddeutschland zu ihrem Onkel, der seit 30 Jahren dort lebt und für sie bürgte. Inzwischen lebt Lama in Berlin, wo sie ihren Master in Englischer Literatur absolviert. Ihre Schwester Lina studierte in Japan Psychologie, bevor es sie ebenfalls nach Berlin verschlug. Dass die beiden Schwestern heute gemeinsam in einer Stadt und in einem Land leben, ist Zufall. „Das Wort Exil verfügt über eine große historische Dimension“, schildert Svenja Leiber ihre Überlegungen. Ihm haften vorwiegend negative Assoziationen wie Krieg, Flucht und Verbannung an. Aber nicht alle Geschichten, die mit dem Exil in Verbindung stehen, sind Fluchtgeschichten. „Ich bin Migrantin, aber ich bin aus einem sicheren Land hierhergekommen“, bestätigt Lina ihr. „Wir kommen in allen möglichen Variationen, wir sind alle anders!“ Und nicht jede hatte wie sie die Möglichkeit, sich bewusst für ein Leben im Exil zu entscheiden.

Lama Al Haddad. Foto: Alexander Janetzko
Lama Al Haddad
Lina Al Haddad. Foto: Alexander Janetzko
Lina Al Haddad

Wie um daran zu erinnern, hängt hinter den vier Frauen auf dem Podium das Porträt einer Frau, die der Kamera ihren Rücken zuwendet. Wie wir von Heike Steinweg erfahren, war die Porträtierte beim Auswärtigen Amt eingeladen, um über Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land zu berichten, im Falle einer Rückkehr in ihre Heimat droht ihr die Verhaftung. Von ihr stammt das titelgebende Zitat der Ausstellung: „Ich habe mich nicht verabschiedet.“ Um zu beschreiben, wie es sich anfühlt, das eigene Zuhause für immer zu verlassen, braucht sie ihr Gesicht nicht der Kamera zu zeigen. Genauso wenig spielen ihre Hautfarbe, Nationalität oder Religion eine Rolle, wenn es darum geht, ihre Gefühle mit anderen zu teilen. Unter ihrem Porträt steht:

„Mein Name spielt keine Rolle. Ich bin ein Mensch. Mein Gesicht ist wie eine Leinwand, auf der ihr euch alle Gesichter vorstellen könnt, die jemals von Leid und Sehnsucht gezeichnet wurden. Meine Haut hat die Farbe aller Menschen zusammen. (…) Ich möchte, dass ihr die Tiefe meiner Traurigkeit versteht: Ich kann nicht zurück in mein Land, und ich habe mich von meiner Familie nicht verabschiedet, weil ich nicht wusste, dass es ein Abschied für immer war.“

Es gehe darum, eine eigene Position einzunehmen. Die Frauen wählten ihre Haltung und die Kleidung, in der sie sich fotografieren ließen, selbst und konnten sich auf diese Weise aktiv auf die Situation vorbereiten. Heike sagt: „Zeig deine Stärke, lächle nicht, versuch nicht süß auszusehen“, berichtete Lina von ihrem Fotoshooting. Dabei habe sie sich gefragt, ob sie tatsächlich stark sei. Wenn sie an ein Fotoshooting dachte, kamen ihr glamouröse Kleider und Make-up in den Sinn. „Das perfekte Bild.“ Als Heike sie fotografierte, befand Lina sich jedoch in der schlechtesten Phase ihres Lebens. In Japan hatte sie ein „ganzes Leben“, ihre Lieblingsorte und Freunde gehabt. In Berlin hatte sie all das verloren – wie sollte sie da eine starke, kraftvolle Pose einnehmen? Vielleicht hatte sie es gar nicht verdient, fotografiert zu werden. Da fiel ihr ein, dass sie im Rahmen ihres Psychologiestudiums gelernt hatte, dass Frauen häufig dazu neigen, über ihre Umgebung und die Stärken anderer, anstatt über sich selbst, zu sprechen. Als Heike sie fotografierte und darum bat, für ihren Katalog einen Text zu schreiben, bestand Linas größte Herausforderung darin, sich einzig und allein auf sich zu beziehen. Selbstermächtigung bedeutet für sie, in der Lage zu sein, an die eigene innere Stärke zu glauben – „selbst dann, wenn man in der schrecklichsten Situation steckt.“ Zum Beweis richten sich nun alle Blicke auf ihr Porträt an der gegenüberliegenden Wand. Darauf ist Lina zu sehen, in einem gemusterten Kleid, über dem sie einen schwarzen Cardigan trägt. Die Nägel, der mittig aneinandergelegten Daumen, rot lackiert, das lange Haar nach oben gebunden. Ihr Blick fragend, weder süß noch schwach.

 

Starke Frauen, die für ihre Rechte kämpfen

Dass es wenig Sinn hat, sich auf die bestehenden Probleme zu fixieren, musste auch Arwa feststellen. Bevor sie nach Berlin kam, hatten Arwa, ihr Mann und ihr kleiner Sohn bereits in drei verschiedenen deutschen Städten gelebt. Um eine Zukunft für sich und ihre Familie zu schaffen, hat sie jede Ungewissheit auf sich genommen und stets wieder bei Null begonnen. Selbstermächtigung bedeute auf der einen Seite, sich selbst in den Fokus der Kamera zu rücken. Für Arwa bedeutet es aber ebenso, selbst aktiv zu werden. Anstatt sich in der Rolle des Opfers zu sehen, beschloss sie, sich ein Beispiel an den deutschen Frauen zu nehmen, die ehrenamtlich in ihrem Wohnheim arbeiteten. „Ihr Engagement hat mich inspiriert, ich wollte auch helfen.“ Arwa beschloss auf ihre Erfahrungen zurückzugreifen und Computer-Workshops für Frauen in ihrem Wohnheim anzubieten, damit sie die Möglichkeit erhalten, sich einen Job zu suchen.

„Inwiefern bedeutet Frausein politisch zu sein?“ Mit dieser Frage verweist Svenja Leiber auf ein Jubiläum, dass dieses Jahr in Deutschland gefeiert wird: 100 Jahre Suffragetten. Während für deutsche Frauen seit Jahrzehnten die Möglichkeit besteht, wählen zu gehen, verfügt keine der vier Frauen neben ihr über ein Wahlrecht. „Ich habe keine politische Stimme, ich darf weder in Syrien noch in Deutschland wählen“, so lautet auch das Statement unter dem Bild von Rasha Abbas.

Svenja Leiber. Foto: Alexander Janetzko
Svenja Leiber

„Die Frauen hier in Deutschland sind sehr stark“, stellt Hend dem gegenüber auf Arabisch fest. Das sei eine der ersten Beobachtungen gewesen, die sie in Berlin gemacht habe. Die Frauen hier bringen ihre Kinder mit dem Fahrrad zur Kita, fahren anschließend zur Arbeit, holen am Nachmittag die Kinder wieder ab und bringen sogar noch Zeit für soziales Engagement auf. Über die Gemeinschaft von WIR MACHEN DAS habe sie Ärztinnen, Anwältinnen und Künstlerinnen kennengelernt, die ihre Hilfe bei Behördengängen und Übersetzungen anboten. Dann habe sie diese Frauen mit den Frauen in ihrer Heimat verglichen. „Frauen in der arabischen Welt sind schwach.“ Doch das liege nicht an ihnen, sondern an der mangelnden Unterstützung von Seiten des Staates. In Syrien sei es ungewöhnlich für eine Frau, Fahrrad zu fahren. Hend und einige andere Frauen haben aus diesem Grund damals eine Bewegung ins Leben gerufen, um genau das zu ändern. Als diese Worte das Publikum in der Übersetzung erreichen, bricht Applaus aus. Doch all die scheinbaren Erfolge ließen kein Ende ihres Kampfes erkennen, führt Hend ihren Gedanken weiter aus. Nach zwei Jahren in Deutschland habe sie ernüchtert feststellen müssen, dass Frausein – egal an welchem Ort – immer kämpfen bedeutet. „Du denkst, wir hätten alles erreicht?“, hatte eine deutsche Freundin sie gefragt. „In Deutschland verdienen die meisten Frauen noch immer deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen oder bekommen keine höheren Jobpositionen angeboten, da sie ja schwanger werden könnten.“

„Wie gehören Migration und Emanzipation zusammen?“, fragt Svenja Leiber mit der Aufforderung an das Publikum, sich diese Frage einmal selbst zu stellen. Man denke allein an die vielen Märchen, die uns lehren, dass das Hinausgehen in die Welt Voraussetzung für die eigene Entwicklung und Emanzipation sei. Wie kann es da sein, dass vier so kluge Frauen unter uns sitzen und keine politische Stimme haben?

„Wenn die Gesellschaft und ihre Gesetze mich nicht unterstützen, dann muss nicht ich mich ändern, sondern sie sich“, erklärte Lina daraufhin in festem Ton. Sie erinnere sich noch gut daran, wie sie anfangs in Berlin geduckt in der S-Bahn gesessen habe, weil sie sich klein und unbedeutend gefühlt habe. Heute weiß sie, dass sich nur dann etwas ändern kann, wenn sie selbst an sich glaubt: „Du musst an deine eigene Größe glauben!“ Und doch fragt sie sich oft, was die Leute sehen, wenn sie ihr begegnen. Sehen sie eine Frau? Oder sehen sie eine Migrantin? Wie um diese Frage zu beantworten, meldet sich eine Frau aus dem Publikum zu Wort, und erzählt, dass sie mit 17 Jahren aus Palästina nach Deutschland gekommen sei, um hier als Cellistin zu arbeiten. Ein Professor habe ihr deutlich gemacht, dass sie in ihre Heimat zurückkehren solle, wenn sie sich für etwas Besonderes halte. Dabei sei sie einfach eine 25jährige Cellistin ­– nichts anders. „Wir wollen einfach nur Respekt und überleben.“

Fragen des Publikums. Foto: Alexander Janetzko
Aus dem Publikum kamen viele Fragen.

Exil nicht nur als Tragödie, sondern als Chance? Wie kann die Zukunft dieser Frauen aussehen? Die abschließende Frage kommt aus dem Publikum, in dem auch Hends Mutter sitzt. Sie fragt: „Wo seht ihr euch in den nächsten 3 Jahren?“ Eine Frage, die mich an ein Vorstellungsgespräch erinnert. Ähnlich lautet auch die Antwortvon Arwa. Sie wünsche sich einen stabilen Job, schiebt dann aber in einem Nebensatz nach: „Vielleicht habe ich in drei Jahren sogar eine eigene Wohnung.“ Auch Hend will sich auf ihre Karriere konzentrieren (was soll sie auch sagen, wenn die eigene Mutter fragt). Derzeit suche sie aber noch nach einem Praktikumsplatz in einer Kita oder Schule. Wenn alles gut laufe, könne sie dann mit 40 ihre Ausbildung beginnen, fügt sie lachend hinzu – wissend um die Absurdität dieser Aussage. Lama und Lina hoffen beide, dass sie in drei Jahren ihren Uni-Abschluss haben. Beide wollen sich auch in Zukunft sozial engagieren, wobei Lina sich durchaus auch eine Karriere als Bundeskanzlerin vorstellen kann. Als das Lachen im Publikum abklingt, erwidert Hend: „Ich werde dich wählen, Lina – wenn ich bis dahin wählen darf.“

Heike Steinweg (2. v. l.) im Gespräch. Foto: Alexander Janetzko
Die Fotografin Heike Steinweg (2. v. l.) im Gespräch.