„Meet Your Neighbours“ in Greifswald. Draußen Nieselregen und eisiger Wind. Im Soziokulturellen Zentrum St. Spiritus tauschen sich Ärzt*innen über ihre berufliche Praxis aus. Die Herausforderungen für Raghad Daher und Bernd Michael könnten verschiedener nicht sein, doch für beide ist und bleibt es ihr Traumberuf.
Der Fotograf Martin Pauer hat die Veranstaltung für uns dokumentiert.
Von Martina Becka, 27.01.2020
Der Raum im St. Spiritus ist gut gefüllt, etwa 25 interessierte Menschen sind gekommen. Durch den Abend führt Naya Fahdist, eine Abiturientin am Hansa Gymnasium in Stralsund und aktives Mitglied bei tutmonde e.V., der einzigen Migrantinnenselbstorganisation in Mecklenburg-Vorpommern. Anne Gatzke, die Integrationsbeauftragte der Hansestadt Greifswald, begrüßt die Teilnehmer*innen. Sie hat selbst Integrationserfahrungen gesammelt und ein Punkt liegt ihr besonders am Herzen: Es sei essentiell, nicht auf die eigene Migration reduziert zu werden, sondern den Zugang zu den Menschen über ihre beruflichen Erfahrungen zu bekommen. Was haben wir gemeinsam? Wo unterscheiden wir uns?
Darüber berichten in den nächsten zwei Stunden die Gesprächsgäste Raghad Daher und Bernd Michael. Raghad Daher, eine in Syrien ausgebildete Frauenärztin, ist vor drei Jahren mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern nach Deutschland gekommen. Kaum eingetroffen, begann sie die deutsche Sprache zu erlernen. Auf die Frage von Naya, ob dieser Beruf für sie ein Traumberuf sei oder eher zufällig gewählt, erzählt sie von ihrem Ziel, Ärztin zu werden. Ein Traum, den sie bereits als Kind hatte. Die spezifische Facharztausbildung hängt in Syrien von den Noten ab. Je besser die Noten, desto mehr Auswahl hat man als Studierende. Nur die Besten werden zu einer Doktorprüfung in den staatlichen Kliniken zugelassen und erhalten dort eine Facharztausbildung.
Bernd Michael ist seit 30 Jahren Kinderarzt mit eigener Praxis in Stralsund und Vater von fünf Kindern. Er erzählt, dass er ursprünglich Archäologie studieren wollte, ein Wunsch, der in der DDR für ihn nicht realisierbar war, so dass er stattdessen den Weg in die Medizin wählte. In der DDR musste man, vom Staat verordnet, gegebenenfalls auch in unbeliebte Regionen gehen, um die gewünschte Fachrichtung zu studieren – oder aber man studierte eine andere Fachrichtung, dafür in einer beliebten Region. Bernd Michael hatte das Glück, beides kombinieren zu können.
Auf die Frage der Moderatorin, ob die Arbeit nach dem Studium ihren Vorstellungen entsprach und nach wie vor Spaß mache, erklärt Bernd Michael, dass sich die tägliche Arbeit in den letzten Jahren stark verändert habe. Der bürokratische Aufwand und die wirtschaftlichen Hürden hätten enorm zugenommen, so dass für die eigentliche Arbeit, den Austausch mit den Patient*innen, immer weniger Zeit bleibe. Raghad Daher hat ein Jahr Praxiserfahrung in Palästina, konnte aber in Deutschland noch keine beruflichen Erfahrungen sammeln. Sie erzählt, dass sie in der Türkei sicher schneller als Ärztin hätte praktizieren können, aber sie dennoch bis nach Deutschland gereist sei, weil es hier für ihre Familie sicherer ist. In Deutschland zu arbeiten, ist für sie schwieriger als gedacht, da ihre Prüfungen hier nicht anerkannt werden und sie nochmals eine Approbationsprüfung ablegen muss. Sie empfindet das als äußerst ungerecht, zumal nach ihren Informationen die Zeugnisse und Prüfungen syrischer Kolleginnen und Kollegen vor 2015 anerkannt wurden.
Naya Fahd fragt Bernd Michael, ob auch er Schwierigkeiten während des Studiums oder seiner Arbeit gehabt habe. Er erzählt daraufhin, dass das Studium in Zeiten des Sozialismus sehr restriktiv gehandhabt wurde und nur wenige wie er das Glück hatten, ohne Parteizugehörigkeit und verlängerte Armeezeit Medizin studieren zu können. Später, nach der Wende, gab es ganz andere Schwierigkeiten: Kliniken wurden privatisiert und immer mehr wie wirtschaftliche Konzerne geführt, was ihn schließlich dazu veranlasste, sich selbstständig zu machen.
Im Gespräch darüber, wie Familie und Beruf vereinbar sind, erzählt Raghad Daher, dass dies in Syrien für sie einfacher war, weil sie dort auch von der Familie unterstützt wurde. Da sie hier vor Ort ohne familiäre Hilfe zurechtkommen muss, möchte sie erst einmal in Teilzeit arbeiten, solange die Kinder klein sind. Als großes Problem sieht sie die Akzeptanz von Kopftüchern in Deutschland. Daraufhin erzählt Bernd Michael von einer Muslima, die bei ihm nach langem Suchen eine Ausbildungsstelle als Arzthelferin gefunden hat. Aber nicht nur Ausbildungsstellen für Muslima sind rar. Auch eine Ausbildungsschule zu finden, in denen Muslima nicht ausgegrenzt werden, sei offenbar nicht leicht.
Bernd Michael hätte es als sehr hilfreich und unterstützend empfunden, wenn die Ärztekammer nach 2015 über kultursensible Behandlungen informiert hätte. Raghad Daher konstatiert, dass die Medizin zwar überall gleich sei, aber die Art und Weise, wie die Ärzteschaft mit den Patient*innen umgeht, sehr unterschiedlich ist. Nach ihrem Eindruck sei es in Deutschland so, dass Ärzt*innen nichts Genaues sagen und eher oberflächlich konsultieren, während in Syrien alle Informationen und Diagnosen mit Patient*innen ausführlich besprochen werden, da alles privat bezahlt werden muss, auch Vorsorgeuntersuchungen. Bernd Michael gibt zu bedenken, dass normalerweise auch in Deutschland alle Patient*innen rundum aufgeklärt werden müssen, aber in der Realität oft nicht genügend Zeit zur Verfügung steht.
Da sich im Publikum auch Abiturient*innen befinden, die vor ihrer Berufsentscheidung stehen, fragt die Moderatorin zum Schluss, inwieweit Raghad Daher und Bernd Michael ihren Beruf anderen weiterempfehlen würden. Darauf haben beide eine eindeutige Antwort: Raghad Daher spricht von ihrer Zufriedenheit und ihrem Stolz, anderen Menschen helfen zu können und Bernd Michael erzählt von seiner Freude und Zufriedenheit, wenn ehemals Neugeborene, die er mit auf die Welt gebracht hat, mit ihren eigenen Kindern wieder in seine Praxis kommen.