„Ich bin Europäerin, Norddeutsche und aus Mecklenburg“, ist einer der Sätze, mit denen Petra Steffan sich vorstellt, als wir uns in der Bibliothek im Alten Zeughaus von Wismar treffen. Ich hatte ihr die Vorlage geliefert, als ich mich in westdeutscher Ignoranz über die Nähe ihrer Heimat zu meiner eigenen, im benachbarten Norddeutschland, wunderte. Vielleicht ist es ihre aufgeräumte Reflektion über das Thema Zugehörigkeit, die sie ihren Job so gut machen lässt. Vermutlich schlicht generelles Interesse an der Diversität in ihrem Umfeld. Jedenfalls scheint sich manches in Wismar zu ändern, seitdem Steffan im Büro für Chancengleichheit sitzt. Bislang haben von 378 Mitarbeiter*innen in der städtischen Verwaltung zwar gerade mal zwei eine Migrationsbiografie. Dafür gibt es mittlerweile den Tag der offenen Moschee, Integrationswochen, selbst Veranstaltungen zu Toleranz in Comics in der Stadt. An diesem Nachmittag sitzt das Meet-Your-Neighbours-Team mit Steffan zusammen. Die Besucherzahlen halten sich in Grenzen, aber auch der Bürgermeister ist da. Eine SPD-Regierung, die in einer mittelgroßen Stadt in Mecklenburg gesellschaftliche Vielfalt propagieren will, zeigt das am eindrücklichsten mit Präsenz.
Schließlich hat die aufgeschlossene Studentenstadt, die noch den Geist der weltoffenen Hanse atmet, auch eine rechte Szene. Hakenkreuz-Sticker kleben auf Mülleimern und Bushaltestellen, erst vergangenes Jahr wurde ein junger Syrer mit einer Eisenkette zusammengeschlagen. Und nicht jedem in der Stadt scheint klar, wie gut Zusammenleben und Zusammenarbeit zwischen Alteingesessenen und Neubürger*innen hier längst funktionieren.
Die Bereitschaft zur Auseinandersetzung sei schon da, sagt Steffan. Aber bislang fände sie in Deutschland noch immer viel zu häufig in intellektuellen Elfenbeintürmen statt. Petra Steffan aber will die breite Masse erreichen. Deshalb sitzen an diesem Abend Deutsche und neu Angekommene auf dem Podium in der Stadtbibliothek, um über das Thema Pflege zu diskutieren. In all seiner Komplexität – dem Mangel an Fachpersonal, fehlenden transkulturellen Strukturen und Kapazitäten im familiären und medizinischen Bereich – ist es ein Thema, das wie kaum ein anderes die Frage aufwirft, die wir seit Jahren hitzig diskutieren: Wie wollen wir miteinander leben?
„In Marokko kümmert sich die ganze Familie, wenn jemand zum Pflegefall wird“, erzählt Nadia Elkorchi, die mit Dagmar Broy, der Betriebsleiterin der Seniorenheime Wismar, Katrin Remer von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft und Petra Steffan auf dem Podium sitzt. „Es gibt schon Pflegeeinrichtungen in Marokko. Aber viele Marokkaner*innen empfinden es noch immer als große Schande, wenn sie ihre Familienmitglieder ‚weggeben’. Es ist zwar häufig eine Belastung, Patient*innen mit bestimmten Erkrankungen zu pflegen – gerade wenn man sich nicht damit auskennt. Und in der Regel bleibt das meiste auch an Frauen hängen. Aber Hilfsbereitschaft gehört zu unserer Kultur, und ich schätze das. Wenn die Nachbar*innen krank sind, bringt man ihnen Suppe. So einfach ist das.“
Vor vielen Jahren hat Elkorchi in Wismar ihr Mathematikstudium abgeschlossen. Mittlerweile ist sie wieder in der Stadt. Zwei ihrer Kinder wurden im Jemen geboren – der Heimat ihres Mannes –, die anderen beiden in Deutschland. Als 2015 der Krieg im Jemen ausbrach, kam die Familie zurück nach Wismar, wo ihr Mann heute an der Hochschule beschäftigt ist. Elkorchi, die in der Ausländerbehörde und im Job Center gearbeitet hat, sucht noch nach einer neuen Stelle. Ihr Verständnis von Nächstenliebe, das Umsorgen der Nachbar*innen, pflegen sie hier ebenso wie auf der arabischen Halbinsel oder im Maghreb. Kürzlich ist ein älteres deutsches Ehepaar, das sein Haus verloren hatte, in die Einliegerwohnung von Elkorchis Haus gezogen und sitzt nun regelmäßig mit der Familie am Küchentisch. „Wir gucken uns ohnehin von Fenster zu Fenster in die Töpfe“, sagt die Nachbarin – dankbar für die aufgeschlossene Vermieterin von nebenan.
Das ist keine Selbstverständlichkeit in deutschen Großstädten, wo das Leben sich immer stärker anonymisiert. Wo es längst auch nicht mehr selbstverständlich ist, dass die jüngere Generation selbst die Verantwortung für ältere und pflegebedürftige Eltern übernimmt. Schon weil sie häufig weit voneinander entfernt leben. „Das professionelle Pflegesystem ist dementsprechend straff organisiert“, sagt Dagmar Broy. Doch auch hier gibt es Lücken, und transkulturelle Kompetenz ist eine davon. „Es stimmt, dass pflegebedürftige Menschen aus anderen Kulturkreisen es sehr schwer haben können, wenn in den Einrichtungen nicht ihre Sprachen gesprochen werden“, sagt Broy. „Wenn ihre Lieder nicht gesungen werden, ihre Kultur und religiösen Bräuche nicht gepflegt.“ In Wismarer Einrichtungen haben gerade mal fünf Prozent der Angestellten Migrationsbiografien. „Aber immerhin steigen die Bewerbungen von Migrant*innen in der Pflege“, gibt Petra Steffan zaghaft Grund zur Hoffnung. Und neue Pflegekräfte werden dringend gebraucht: Mehr als 25 Prozent der Einwohner*innen Wismars sind älter als 65 Jahre.
Die Moderatorin Jana Michael arbeitet in Stralsund beim Verein Tutmonde. Im alltäglichen Kontakt mit Frauen und Kindern, die Flucht- oder Migrationsgeschichten haben, hört sie zuweilen auch von den transkulturellen Herausforderungen im Pflegebereich. Unter anderem eine Geschichte hat sie länger beschäftigt. Ein junger Somalier betreute in seiner Schicht im Pflegeheim einen älteren Herrn, dem er das Essen brachte. Wie er es aus Somalia kannte, wartete er stets, bis der ältere Herr – für ihn eine Respektsperson – ihn aus dem Zimmer entließ. Der Patient hingegen wartete darauf, dass der Pfleger von selbst gehen würde. So warteten beide, das Essen wurde regelmäßig kalt – bis die Situation sich erst nach mehreren Malen auflöste. Ein klassischer Fall von „Lost in Translation“, wenngleich ein harmloser. „Aber was ist, wenn Patient*innen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in die Notaufnahme kommen“, fragt ein junger Syrer, der in Wismar für die Ausländerbehörde arbeitet, aus dem Publikum. „Was, wenn Narkosegespräche geführt werden müssen und keine Dolmetscher*innen zur Hand sind? “
Dass sich in der Personalpolitik vieler Krankenhäuser und Pflegeheime etwas ändern muss, darin sind sich Publikum und Panel einig. Steigende Bewerbungen von Fachkräften mit entsprechender Kompetenz sind ein gutes Zeichen, aber sie müssen eben auch eingestellt werden. Und selbst nach der Einstellung ist die transkulturelle Sensibilität der Arbeitgeber*innen gefragt. „In einer unserer Pflege-WGs gab es Beschwerden über den ‚Gestank’ im Gang, wo einige Pflegerinnen aus Südostasien wohnen“, erzäht Dagmar Broy. „Da muss man dann sehr deutlich werden und erklären, dass andere Essgewohnheiten und Gerüche uns nur bereichern können.“
Wir sind längst nicht mehr beim Thema Pflege, als eine junge Afghanin aus dem Publikum vom isoliertem Leben in ihrem Viertel erzählt. Davon, wie die Nachbar*innen sie grüßten, ansonsten aber einen Bogen um sie machten. Da erzählt Nadia Elkorchi, was sie ihrer Tochter riet, als die sich in der deutschen Schule fremd fühlte: „Du musst offensiv auf die Deutschen zugehen, denen fällt das nicht so leicht.“ Bei ihrer Tochter hat es funktioniert. Doch natürlich weiß auch Elkorchi, dass die Begegnung mit Deutschen keine Einbahnstraße sein kann. Zum Zuckerfest hat sie bunte Teller gemacht, die sie ihren Nachbar*innen vor die Tür gestellt hat. „Alle waren begeistert und haben sich bedankt.“ Nur eine hat die Süßigkeiten wortlos in den Müll geworfen. Sie zuckt mit den Schultern, lässt für einen kurzen Augenblick die Anstrengung erkennen, die in solchen Zurückweisungen steckt. Dann blickt sie sich um. Hier ist sie unter Freund*innen.